Ein Land ohne Plan
Der diplomatische Fauxpas des Bundesaußenministers hat die deutsch-chinesischen Beziehungen erschüttert. Er sollte uns daran erinnern, wo Deutschland steht – und uns ermuntern, endlich unsere geostrategischen Hausaufgaben zu machen.
Oliver Hermes ist President & Global CEO der Wilo Group, Vorsitzender des Kuratoriums der Wilo-Foundation & Shareholder, Mitglied des Kuratoriums der Stiftung Familienunternehmen, Mitglied des Präsidiums des Nah- und Mittelost-Vereins e.V. (NUMOV), Kuratoriumsmitglied des Afrika-Vereins der deutschen Wirtschaft sowie Vorstandsmitglied der Subsahara-Afrika Initiative der Deutschen Wirtschaft (SAFRI). Der Ökonom studierte Volkswirtschaftslehre mit dem Schwerpunkt Ostasienwirtschaft/China. Hermes spricht Deutsch, Englisch, Französisch und Chinesisch. Er ist Essayist mit Beiträgen, die in unabhängigen Medien publiziert werden. Der Autor gibt seine eigene Meinung wieder.
Johann Wadephul hat sich einen (Baer-)Bock geschossen. „China unterstützt die russische Aggression gegen die Ukraine – auch um eigene hegemoniale Bestrebungen zu rechtfertigen“, orakelte kürzlich Bundesaußenminister Johann Wadephul in ein Mikrofon. Der CDU-Politiker – angetreten, den moralisierenden Ton seiner grünen Vorgängerin durch interessengeleitete Sachlichkeit zu ersetzen – ruft den wichtigsten deutschen Handelspartner in seiner Rede zum 40-jährigen Bestehen des Japanisch-Deutschen Zentrums Berlin vorsorglich zu Ordnung. Beweise für die Analyse des höchsten deutschen Diplomaten? Fehlanzeige.
Die Bundesrepublik hebt den Zeigefinger, um ein anderes Land zu ermahnen, sich doch bitte an ihre Werte zu erinnern. So weit, so ungeschickt – und so normal? Mitnichten. Etwas ist anders an diesem neuesten deutschen Diplomatie-Fauxpas. Man muss es sich auf der Zunge zergehen lassen: 80 Jahre nach Kriegsende wirft der deutsche Außenminister China vor japanischem Publikum Allmachtsphantasien vor. Dem japanisch-chinesischen Krieg zwischen 1937 und 1945 als Teil des zweiten Weltkriegs fielen in China zwischen 15 und 20 Millionen Menschen zum Opfer. Nach der Sowjetunion hatte China die meisten Toten im Zweiten Weltkrieg zu beklagen.
Kein Wunder also, dass China Deutschland den Anfall von moralischer Überlegenheit diesmal nicht ohne Weiteres verzeihen kann. Eine geplante China-Reise musste Wadephul kürzlich absagen, weil zu wenig Termine offiziell bestätigt worden sind. Heißt: Für den deutschen Außenminister ist in China derzeit niemand zu sprechen. Das ist erstens peinlich. Und zweitens gefährlich, weil wir – das scheint Herr Wadephul unzureichend bedacht zu haben – in hohem Maße vom Handel mit China abhängig sind.
Wie abhängig, zeigt der Fall Nexperia: Der niederländische Chip-Hersteller, der einst als Ausgründung des Technologiekonzerns Philips entstand, ist inzwischen mehrheitlich in chinesischem Eigentum. Aus Sicherheitsinteressen, so die offizielle Begründung, übernahm die niederländische Regierung im September 2025 die Kontrolle über das Unternehmen.
In anderen Worten: Aus Angst vor dem vermeintlichen Rivalen China und auf Druck der USA zwangsenteigneten die Niederlande Nexperias Anteilseigner und damit unmittelbar die Volksrepublik China unter Anwendung eines Gesetzes, das bis dato als Ultima Ratio der niederländischen Wirtschaftspolitik galt. Man stelle sich dieses Szenario andersherum vor! Die Folgen dieser skandalösen und beispiellosen Entscheidung sind bekannt. China reagierte schnell und verhing ein scharfes Exportverbot für Nexperia-Produkte, von denen zahlreiche große Unternehmen in Europa abhängen, darunter auch Volkswagen.
Deutschland braucht China und Chinas Rohstoffe
Wie abhängig wir von der Partnerschaft mit China sind, zeigt aber auch ein Blick auf die nüchternen Fakten. China baut rund 70 Prozent der Seltenen Erden weltweit ab und verarbeitet etwa 90 Prozent. Das Land verfügt bei den Metallen und vielen weiteren Rohstoffen quasi über ein Monopol. Die Gründe dafür liegen auch, aber nicht nur im hohen Vorkommen der Seltenen Erden in China. Auch in Sachsen lassen sich Seltene Erden finden, doch sind sie kaum wirtschaftlich abbaubar.
Dabei geht schon heute nichts ohne die begehrten Rohstoffe. Für so gut wie jede Komponente, auf der unsere technologisierte Welt fußt, werden Seltene Erden benötigt. Von Elektromotor bis Data Center: Die Mobilitätswende, die Energiewende und auch die sich beschleunigende KI-Revolution sind ohne die Rohstoffe aus China nicht denkbar. Doch das Gelingen dieser riesigen Transformationsprozesse ist eine notwendige Bedingung für Länder wie Deutschland, um nicht vollkommen von den Entwicklungen im Global Süden abgehängt zu werden. Beispiel Mittlerer Osten: Länder wie Saudi-Arabien, Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate investieren kräftig in Zukunftstechnologien wie KI, um globale Technologieführer zu werden.
„Der Westen kommt also weder ohne Seltene Erden aus noch an China als Lieferant vorbei.“
Der Westen kommt also weder ohne Seltene Erden aus noch an China als Lieferant vorbei. Doch selbst wenn er könnte: Die Abhängigkeit von China würde das wohl kaum verringern. Von den protektionistischen Tendenzen der vergangenen drei Jahre dürfen wir uns nicht täuschen lassen. Noch immer erleben wir die Effekte einer geoökonomischen Zeitenwende, die eine unmittelbare Konsequenz der geopolitischen Zeitenwende ist. Alte Allianzen bröckeln, multinationale Kooperationen justieren sich neu. Handelsbarrieren, extra-territoriale Sanktionen, Technologieembargos folgen auf eine aus politischen Gründen eingeleitete Entkopplung von Lieferketten, mit dem anspruchsvollen Ziel, sie neu zu strukturieren. Doch dieses politische Vorhaben ist zum Scheitern verurteilt. Eine Rückabwicklung der Globalisierung ist unmöglich. Für eine Entkopplung der Lieferketten ist es zu spät – die Welt ist hierfür bereits zu vernetzt und zu verwoben.
Auch diese recht einfache ökonomische Erkenntnis lässt sich durch Fakten untermauern. Der Welthandel soll in diesem Jahr um 2,4 Prozent wachsen und einen neuen Rekordwert erreichen, prognostiziert die World Trade Organization (WTO). Die globale Wirtschaftsgemeinschaft ist weitestgehend unbeeindruckt von den protektionistischen Ideen der Politik.
Oktober 2025: Oliver Hermes traf den chinesischen Generalkonsul Yong Yu auf dem Wilopark
Wie man es dreht und wendet, wir brauchen chinesische Rohstoffe. Doch sollte nicht nur diese Abhängigkeit dem Bundesaußenminister Grund zum Nachdenken liefern. Es geht auch um Deutschlands Ruf: Nach Jahrzehnten der wirtschaftlichen Verflechtung kann China zurecht einen partnerschaftlichen Umgang auf Augenhöhe erwarten. Stattdessen wird die Volksrepublik – eine Weltmacht, in jeder Hinsicht um ein Vielfaches größer als Deutschland – auf einer Berliner Bühne gemaßregelt.
Würden wir so auch mit den Vereinigten Staaten umgehen? Eher nicht. Aus transatlantischer Tradition heraus vertrauen wir den USA noch immer weitestgehend uneingeschränkt, und das auch beim Umgang mit China. Die Vereinigten Staaten sind ein wichtiger Partner für uns. Doch Deutschland sieht nur, was Deutschland sehen will: In der diffusen Hoffnung, irgendwann sei die deutsch-amerikanische Beziehung wieder im Vor-Trump-Zustand hergestellt, hinterfragen wir die mit dem amerikanischen China-Kurs einhergehenden Risiken kaum. Wenn die USA den Handelskrieg mit dem Rivalen aus Asien verlieren, verlieren auch wir – Rohstoffe, Geld, Sicherheit und einen verlässlichen Partner seit Beginn der chinesischen Öffnungspolitik vor 30 Jahren.
Daran ändert auch das jüngste Treffen zwischen US-Präsident Donald Trump und Chinas Staatschef Xi Jinping nichts. Zwar feiern die USA die in Südkorea getroffenen Vereinbarungen als diplomatische Siege. Doch China bleibt bei der Einordnung der Ergebnisse auffällig zurückhaltend. Das sollte uns nachdenklich stimmen, ebenso wie die Tatsache, dass europäische Interessen darin keine Rolle spielen. Ganz zu schweigen von der Frage, ob der jüngste Deal tatsächlich zur Umsetzung kommt. Es bleibt also dabei, auch nach dem jüngsten Treffen in Südkorea: Deutschland ist auf einem Auge blind.
Deutschland hat geostrategische Arbeit versäumt
Deutschland kennt seinen geopolitischen Standpunkt nicht. Was sich kein Unternehmen ernsthaft leisten kann, erlaubt sich die Bundesrepublik seit Jahren: Strategielosigkeit. Deutschland muss das Dickicht aus Chancen und Risiken endlich lichten – Deutschland braucht eine geopolitische Strategie! Ist diese Denkarbeit einmal erledigt, macht sich die Ableitung weiterer funktionaler Strategien fast wie von selbst. Besonders dringend ist, wie hier deutlich geworden ist, diese Denkarbeit mit Blick auf die Rohstoffversorgung geboten.
„Nötig ist eine funktionale Beschaffungsstrategie, die die geopolitische Machtverteilung berücksichtigt.“
Machen wir es konkret. Nötig ist eine funktionale Beschaffungsstrategie, die die geopolitische Machtverteilung berücksichtigt; auch, um Deutschlands Versorgung mit wichtigen Rohstoffen für kritische Infrastrukturen und Zukunftstechnologien zu sichern. Dies in dem Bewusstsein, dass es eine vollständige End-to-End-Unabhängigkeit von Volkswirtschaften mit komplexen Systemen nicht gibt und auch nicht geben kann.
Die Fragen liegen auf der Hand. Welche Rohstoffe sind schon heute und welche werden künftig strategisch besonders relevant? Wie hoch sind die Verfügbarkeitsrisiken? Welche eigenen Rohstoffquellen haben wir, wo sind wir auf Importe angewiesen (make or buy)? Welche Lieferantenrisiken bergen die definierten Importländer? Am Ende dieses Strategieprozesses steht so nicht nur eine diversifizierte (Rohstoff-)Beschaffungsstrategie, sondern Antworten, die Leitplanken einer realistischen und interessengeleiteten Außenwirtschaftspolitik sind und so zur Sicherung der territorial-wirtschaftlichen Souveränität und zum Wohlstand Deutschlands beitragen.
In der Umsetzung sollten sich die Erkenntnisse in strategisch hergeleiteten Handelsabkommen und Allianzen niederschlagen. Von zentraler Bedeutung ist die Ausgestaltung dieser Partnerschaften: Programme wie die „Global Gateway“-Initiative, die Länder der Europäischen Union stärker mit Schwellen- und Entwicklungsländern vernetzen soll, können nicht funktionieren, weil sie im Vergleich zu den Konnektivitätsstrategien der USA und China zu spät kommen und außerdem zu niedrig dotiert, zu bürokratisch sowie nicht auf Augenhöhe mit den Partnerländern formuliert sind. Einen Fehler macht, wer potenzielle Partner in „gut“ und „böse“ einteilt. Mit einem „erhobenen Zeigefinger“ hat noch niemand Brücken gebaut.
Womit wir wieder bei Johann Wadephul wären. Der hier skizzierte Strategieprozess – von übergeordneter geopolitischer und -ökonomischer Strategie hin zu einer funktionalen Beschaffungsstrategie mit einer Ausgestaltung in neuen Partnerschaften – setzt eines klar voraus: Wir müssen endlich erkennen, wo wir stehen. Nach Johann Wadephuls Fauxpas haben wir eine kalte Dusche der Realpolitik bekommen. Die damit einhergehenden diplomatischen Verstimmungen sollten auch dem Letzten die Chancen, Risiken und Abhängigkeiten offensichtlich gemacht haben – und uns daran erinnern: China war stets ein verlässlicher Partner Deutschlands. Wir sollten alles daransetzen, dass es so bleibt.