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25.02.2025 CEO Standpunkt

Die konstruktive Zerstörung

Megatrends Globalisierung 2.0 Corporate Political Responsibility Management Nachhaltigkeit Creating Connecting Caring

Reförmchen sind die falsche Antwort auf die historischen Herausforderungen Europas und Deutschlands. Es braucht die kontrollierte Sprengung bestehender Ketten und den Aufbau neuer Strategien und Strukturen. So kann Europa wieder zu globaler Bedeutung finden – und Deutschland einen Weg aus der Krise. Ein Essay.

Oliver Hermes ist Vorstandsvorsitzender und CEO der Wilo Gruppe, Vorsitzender des Kuratoriums der Wilo-Foundation, Mitglied des Kuratoriums der Stiftung Familienunternehmen, Mitglied des Kuratoriums des Deutschen Nachhaltigkeitspreises (DNP), Mitglied des Präsidiums des Nah- und Mittelost-Vereins e.V. (NUMOV) und Mitglied des Vorstandes des Afrika-Vereins der deutschen Wirtschaft sowie der Subsahara-Afrika Initiative der Deutschen Wirtschaft (SAFRI). Er ist Essayist mit Beiträgen, die in unabhängigen Medien publiziert werden. Der Autor gibt seine eigene Meinung wieder.

Das Jahr ist erst wenige Wochen alt. Und doch avanciert ein Begriff schon jetzt zum (Un-) Wort des Jahres: Wachstumsschwäche. Nach der Corona-Pandemie und dem plötzlichen Angriffskrieg Russlands bedroht eine inzwischen galoppierende Deindustrialisierung die wirtschaftliche Stabilität Deutschlands und damit unseren Wohlstand und unsere Demokratie. Eine Entwicklung, die auch unsere europäischen Nachbarn mit Sorge beobachten. Unter ihnen wächst die Angst, der „kranke Mann“ könne den Rest des Kontinents anstecken. Deutschland hustet – Europa bekommt die Grippe.

Etwas ist anders an der neusten Krise: Sie kam nicht von heute auf morgen. Und sie wird nicht von heute auf morgen wieder gehen. Wie wir aus der Krise herausfinden? Die bisherigen politischen Antworten auf Deutschlands Deindustrialisierung – „Doppel-Wumms“, „Wachstumsinitiative“ – klangen nach großen Reformen. Doch hinter ihnen verbargen sich Reförmchen; zu klein und zu inkonsequent, um die Wirtschaft tatsächlich zu stabilisieren und die negative Entwicklung zu bremsen.

Gemein waren ihnen auch die wohlgewählten Namen. Sie sollten den Anschein erwecken, sie seien, wonach sich die Bürgerinnen und Bürger sehnen: eine große Veränderung. Doch die Entwürfe verkamen zu Mogelpackungen. Die politischen Entscheider scheuten sich, ihren Wählerinnen und Wählern den großen Wurf zuzumuten. Was, wenn keiner die Konsequenzen tragen will? Nachvollziehbar. Und doch bleibt unbenommen, dass wir – in Deutschland, aber auch in Europa – genau das brauchen, um wieder wettbewerbsfähig zu werden: den großen Wurf, die kontrollierte Disruption.

1. Die Disruption – der kontrollierte radikale Umbruch

Der Begriff, der als technologische Disruption Bekanntheit erlangte, bezeichnet die radikale Verdrängung des Bisherigen. Die Fotofilm-Firma KODAK erwischte die Digitalisierung und ihre disruptive Wirkung kalt – sie ging pleite. Andere profitierten erheblich von dem Umbruch. Doch Disruption ist bei Weitem nicht nur ein Phänomen aus der Wirtschaftswelt. Auch Prozesse, Systeme, ja Gesellschaften und Kulturen sind von plötzlicher, radikaler Veränderung betroffen.

Und freilich auch politische Systeme. In der Politik kann Disruption ähnlich wie im Markt als schöpferische Zerstörung wirken. Der Umbruch politischer Systeme kennt Gewinner und Verlierer. Menschen, die vorher kaum politisch beteiligt waren, geschweige denn gehört wurden, sind plötzlich in politische Prozesse einbezogen. Die politische Disruption spült diese Menschen geradezu nach oben. Etablierte Interessengruppen verlieren hingegen an Einfluss. Wer gestern noch wichtig war, ist es heute vielleicht nicht mehr.

Der Vorteil der Disruption, egal, ob politisch, wirtschaftlich oder gesellschaftlich: Es kommt etwas in Bewegung. Der Nachteil: Sie ist radikal. Zudem ist unklar, ob eine Disruption mehr Gewinner als Verlierer hervorbringt. Die Disruption als Konzept zur Veränderung oder gar zur Krisenbewältigung ist also durchaus umstritten; ebenso, wie der Begriff selbst. Denn Disruption zu fordern ist einfach – viel einfacher, als konkrete, kleinschrittige Reformen vorzuschlagen.

„Der Vorteil der Disruption, egal, ob politisch, wirtschaftlich oder gesellschaftlich:
Es kommt etwas in Bewegung.“

Oliver Hermes, Vorstandsvorsitzender und Chief Executive Officer (CEO) der Wilo Gruppe

Oliver Hermes, Vorstandsvorsitzender & CEO der Wilo Gruppe

Will man die Disruption als Werkzeug für Veränderung, darf man also nicht vergessen, ihr eine Ausgestaltung der durch den Umbruch entstandenen Freiräume folgen zu lassen. Wie geht es weiter, wenn alte Strukturen erst aufgebrochen sind? Dies ist die erste notwendige Bedingung für den Erfolg von Disruption. Die zweite lautet: Es braucht schon vor der Disruption einen übergeordneten Plan – eine Strategie. Einschneidende Veränderungen zu provozieren, muss in einem hehren Ziel gerechtfertigt sein. Und die dritte, wohl am wichtigsten: Die Zerstörung braucht nicht verhandelbare Grenzen, damit aus dem Umbruch eine kontrollierbare Sprengung wird.

Machen wir es konkret. Den Beginn einer neuen Disruption der Automobilindustrie können wir in China beobachten. Das Land fördert die Branche erheblich, sie hat sich großes Know-how im Bereich der Batterie- und Softwareentwicklung erarbeitet. Beides steht im Fokus der chinesischen Automobilentwicklung. Fahrwerk, Karosserie, Interieur? Zweitrangig. Die Hardware wird zum Beiprodukt. Möglich macht die von Chinas Autobauern ausgehende Disruption der politische Wille der Kommunistischen Partei: Sie strebt die dauerhafte Technologieführerschaft Chinas im Bereich der Elektromobilität an. Ein übergeordneter Plan, für den sich die Disruption, zumindest in den Augen Chinas, lohnt.

Die Vereinigten Staaten von Amerika erleben mit der Wiederwahl von Donald Trump eine Disruption, die als politische Form begann und schnell wirtschaftspolitisch geprägt wurde. Die radikalen Vorstöße und Maximalforderungen des Präsidenten und seiner Entourage krempeln die Märkte und Lieferketten um. Sie bringen die großen amerikanischen Technologiekonzerne dazu, ihre Grundsätze und Strategien zu hinterfragen und teilweise aufzugeben. Sie treiben die Kurse von Kryptowährungen in Rekordhöhen, zumindest kurzfristig. Grenzen findet die Disruption in der amerikanischen Verfassung. Schon mehrfach hat sich der US-Rechtsstaat mit Blick auf Trumps Vorstöße als wehrhaft erwiesen.

Und Europa? Europa mangelt es nicht an Anlässen, wohl aber an der Kraft und – noch bedeutsamer – am Verständnis für disruptive Veränderung. Donald Trumps Wahl und Wiederwahl sowie seine Politik hält die Europäische Union für einen historischen Unfall, den man aussitzen kann. Xi Jinpings Geopolitik einen europäischen Entwurf entgegenzusetzen, hat die EU offenbar aufgegeben. Während die Machthaber in Amerika und China bis an die Grenzen der Belastbarkeit politischer Systeme durchregieren – mag man mit ihrer Politik einverstanden sein oder nicht –, ist die EU geopolitisch noch immer eine lahme Ente, die versucht, Veränderung nur evolutiv zu erreichen.

Yellow pins mark various locations on a detailed map of Europe.

2. Die strategische Disruption Europas

Noch nie war Europa so weit von disruptiver Veränderung entfernt wie derzeit. Doch noch nie hätte Europa eine solche Veränderung so sehr gebraucht wie heute. Zum einen, weil es ein schlagkräftiges Gegengewicht in der zunehmend bipolaren US-amerikanisch und chinesisch geprägten Weltordnung braucht. Zum anderen, weil Europa als Wirtschaftsraum und die Europäische Union als politische Institution langfristig nur mit radikalen Veränderungen überlebensfähig sein werden.

Europa hat also noch eine Chance! Mehr noch: Wenn die Europäische Union disruptive Veränderungen bewusst und kontrolliert anstößt, kann sie diese im Sinne einer übergeordneten Strategie lenken. Dies setzt freilich ein aufeinander abgestimmtes Rahmenwerk von funktionalen europäischen Strategien voraus, die auf einer erst einmal zu entwickelnden übergeordneten, nachhaltigen europäischen Geostrategie fußen müssen. Diese übergeordnete Geostrategie ist dann nicht weniger als der Taktgeber europäischer Politik, langfristig und in historischen Dimensionen. Keinesfalls dürfen die Entscheider in Brüssel in Legislaturperioden denken! Die neue übergeordnete Geostrategie definiert sodann also nicht mehr und nicht weniger, als welche Rolle Europa auf der Weltbühne spielen wird.

3. Die neue europäische Industriepolitik

Europa braucht also eine Geostrategie, die diesen Namen verdient. Sie gibt auch wirtschaftlich die Richtung vor. Aus den geoökonomischen Leitplanken einer ganzheitlichen Geostrategie lässt sich wiederum eine kohärente Industriepolitik ableiten. Hier wird Disruption langsam konkret: Dass wir eine resiliente Industrie brauchen, um die Unabhängigkeit, den Wohlstand und die Demokratie in Europa zu schützen, ist unbestreitbar. Sie ist der Kitt des Wirtschaftsraums Europa. Doch eine kohärente Industriepolitik entlang der Wertschöpfungsketten wäre insbesondere für Deutschland ein Novum.

Industriepolitik galt lange als nicht mit der freien Marktwirtschaft vereinbares No-Go. Zu sehr schien sie ein planwirtschaftlicher Eingriff der Politik zu sein, zu sehr schien sie die Technologieoffenheit zu beschneiden und dem Wettbewerb zu schaden. Doch ist ein Nein zur Industriepolitik nur so lange ernsthaft vertretbar, wie globaler Konsens herrscht. Es gilt: alle oder keiner. Scheren die ersten Länder oder Bündnisse aus, werden die Mechanismen des freien Marktes ohnehin außer Kraft gesetzt – zugunsten derer, die Industriepolitik betreiben, und zu Ungunsten derer, die sich davor verschließen.

Der Markt allein regelt unter diesen Voraussetzungen eben nichts. Die Entscheidung, ob es Industriepolitik braucht oder nicht, ist Europa von Playern wie den USA oder China bereits abgenommen worden. Als industriepolitische Maßnahmen im weitesten Sinne können hierbei Subventionen, aber auch Sanktionen und Zölle gelten. Die geoökonomische Zeitenwende als Konsequenz der geopolitischen Zeitenwende führte die Welt in eine Globalisierung 2.0. Die 30 Jahre Hyperglobalisierung sind damit vorbei. Protektionismus und Abschottung als Bestandteil industriepolitischer Maßnahmen brechen sich seitdem Bahn. Mechanismen liberalisierter Weltmärkte versagen deswegen.

„Eine starke europäische Industriepolitik ist unerlässlich, um nicht Opfer eines globalen Marktversagens zu werden.“

Oliver Hermes, Vorstandsvorsitzender & CEO der Wilo Gruppe

Es wäre allein ein disruptiver europäischer Ansatz, die Ausgestaltung einer Industriepolitik selbstbewusst in die Hand zu nehmen. Doch wie gestalten wir Industriepolitik? Eine neue industriepolitische Strategie Europas muss (mindestens) Antworten auf die folgenden Fragen finden:

Was sind die kritischen Infrastrukturen für Europa?

Es ist zu bestimmen und damit zu priorisieren, welche Infrastrukturen wir künftig besonders schützen müssen; auch über Energie und Verteidigung hinausgehend. Für alle kritischen Infrastrukturen sollte die Abhängigkeit von Nicht-EU-Staaten deutlich reduziert werden.

Welche Zukunftsmärkte sollen aus Europa erschlossen werden?

Es ist insbesondere der Frage strategisch nachzugehen, mit welchen Produkten, Systemen und Lösungen die Märkte der Zukunft im digitalen Klimaschutzzeitalter inner- und außerhalb Europas bedient werden. In welchen Branchen wird Europa künftig globale Champions stellen?

Wie erschließen wir diese Zukunftsmärkte?

Eine Industriepolitik mit Weitsicht beantwortet auch die Frage nach dem „Wie?“ und dem „Wann?“ und macht sich so überprüfbar. Es sind konkrete Instrumente und Maßnahmen zu definieren, die den Weg weisen.

Welche Rohstoffe werden benötigt und woher kommen sie?

Es gilt, für kritische Infrastrukturen und Zukunftstechnologien relevante Rohstoffe zu definieren. Nach Möglichkeit hält Europa sie selbst vor; für alle anderen Rohstoffe braucht es strategische Partnerschaften mit Staaten und Regionen außerhalb der EU.

Was wird innerhalb der EU produziert und was wird importiert?

„Make or buy“-Entscheidungen gehören für Industrieunternehmer zum Alltag. Die EU muss sich die Frage stellen, ob insbesondere die für kritische Infrastrukturen relevanten Güter effizient in Europa hergestellt oder importiert werden müssen. Wir können schlichtweg nicht alles selbst machen. Multilaterale Strukturen und Prozesse sind auch hier ein nicht wegzudenkendes Muss.

Wo wird was innerhalb der EU produziert?

Es macht volkswirtschaftlich Sinn, die Nachfrage nach bestimmten Industriegütern aus bestimmten europäischen Ländern heraus zu bedienen. Die jeweils besten Rahmenbedingungen für Produktion und Wertschöpfung in den jeweiligen EU-Mitgliedsstaaten sollten je Branche den Ausschlag geben. Die Vielfalt der Rahmenbedingungen in Europa, die häufig komplementär und nicht substitutiv ist, sollte genutzt werden.

Woher kommt die Finanzierung?

Für die Umsetzung einer kohärenten Industriepolitik braucht es finanzielle Mittel. Die Industriepolitik muss daher den Aufbau von global agierenden europäischen Großbanken mitdenken.

Neben diesen harten und weniger harten strategischen Richtungsentscheidungen steht allerdings eine größere Aufgabe an: der Mindset Change. Die beste industriepolitische Strategie ist nichts wert, wenn Europa sich nicht in seiner politischen Haltung gegenüber Wirtschaft und Industrie bewegt.

Nur mit einem Verständnis von Politik und Wirtschaft auf Augenhöhe haben industriepolitische Maßnahmen Erfolgschancen. Der wirtschaftliche Erfolg muss insbesondere in Deutschland endlich wieder ins Zentrum der Bemühungen rücken, sonst ist nicht nur jede Anstrengung umsonst, sondern unser Wohlstand und damit langfristig unsere Demokratie sind in Gefahr. It’s the economy, stupid!

„Nur mit einem Verständnis von Politik und Wirtschaft auf Augenhöhe haben industriepolitische Maßnahmen Erfolgschancen.“

Oliver Hermes, Vorstandsvorsitzender und CEO der Wilo Gruppe

4. Die neue europäische Entwicklungspolitik

„China gibt der chaotischen Welt Hoffnung“, schrieb der chinesische Staatsrat im Januar 2025 in seinem Onlineportal. Der Name „Reich der Mitte“ kommt nicht von ungefähr: China versteht sich – zurecht – als Weltmacht. Und das einmal mehr seit der Wiederwahl von Donald Trump. Die vom US-Präsidenten angekündigten Rückzüge aus der internationalen Zusammenarbeit nimmt Peking mit Wohlwollen zur Kenntnis. Es ist für China ein Leichtes, nun international erheblich an Einfluss zu gewinnen.

Europa hat dem nichts entgegenzusetzen. Die Länder der Europäischen Union haben es bislang den Vereinigten Staaten überlassen, die westlichen Werte und Interessen in der Entwicklungspolitik zu vertreten. Einerseits aus guter Tradition: Europa verlässt sich nur zu gerne darauf, dass die USA in den Lead gehen, sei es in der Handels-, Sicherheits- oder eben Entwicklungspolitik. Andererseits mangels Schlagkraft: Der träge Tanker Europa hat es in der Vergangenheit nicht geschafft, eine ganzheitliche Konnektivitätsstrategie aufzusetzen und in die Umsetzung zu bringen.

Das rächt sich nun. Die „Build Back Better World“-Initiative setzt die US-amerikanische Konnektivitätsstrategie mit dem Globalen Süden um. Initiiert von der Biden-Administration, steht sie unter Donald Trump in Frage. Es bleibt Chinas Projekt „Neue Seidenstraße“, das ursprünglich mit rund 1 Billion Euro budgetiert war und entsprechend schlagkräftig seit mehr als zehn Jahren daherkommt. Kein Vergleich jedenfalls zur „Global Gateway“-Initiative, die Länder der Europäischen Union stärker mit Schwellen- und Entwicklungsländern vernetzen soll. Sie ist zu bürokratisch, zu kompliziert, zu unattraktiv für kleine und mittelgroße Unternehmen. Zudem ist sie erheblich unterfinanziert. Ein Tropfen auf dem heißen Stein.

Am gravierendsten aber ist der neokoloniale Geist, den das EU-Programm atmet. Der Globale Süden erhebt sich derzeit zu neuem Selbstbewusstsein. Die Länder der südlichen Hemisphäre nutzen den geoökonomischen Umbruch, um zu politischen und ökonomischen Playern auf der Weltbühne aufzusteigen. Wir brauchen eine neue Perspektive auf ihre Entwicklung und vor allem: Partnerschaften auf Augenhöhe, um dieser neuen Realität Rechnung zu tragen. Auch hier handelt es sich also um einen notwendigen Mindset Change, den Europa berücksichtigen muss, wenn es endlich eine Konnektivitätsstrategie definiert hat, die aus einer übergeordneten Geostrategie abgeleitet wurde.

Traveling, adventure and vacation concept with compass

5. Die neue europäische Struktur

Eine Geostrategie und daraus abgeleitete Industrie- sowie Konnektivitätsstrategien für Europa – und dann, alles gut? Mitnichten. Nach Erledigung der Denkarbeit, die Europa aufzuholen hat, muss eine strukturelle Anpassung folgen, damit die Umsetzung der Strategien gelingen kann. Structure follows Strategy! Es müssen nach der Strategieformulierung die Aufräumarbeiten in Brüssel und Straßburg beginnen – die konstruktive Disruption der Institutionen.

Der Begriff „Strukturreform“ ist zu wenig für das, was die Europäische Union nötig hätte. Statt mit der Schere zu stutzen, braucht es den Rasenmäher, um die Institution fit für die Herausforderungen unserer Zeit zu machen. Eine Generalüberholung, der Major Overhaul, muss her. Denn längst sind aus den europäischen Institutionen, die einst die europäische Idee zum Tragen bringen sollten, träge Behörden geworden, die Bürokratie aufbauen und sie in die Mitgliedsstaaten weitergeben.

Doch die Europäische Union krankt nicht mehr nur an ihrer Bürokratie, sondern an ihrer Vetokratie. Geprägt wurde das Kunstwort durch den Ökonomen Mike Moffatt. Zur Bürokratie kommt auf europäischer Ebene zusätzlich eine gut gemeinte, aber schlecht gemachte Partizipation aller erdenklichen Anspruchsgruppen in der Entscheidungsfindung. Kurzum: Jeder darf mitreden – und im Zweifelsfall ein Veto einlegen. Das Einstimmigkeitsprinzip verunmöglicht die strategische Weiterentwicklung der EU. Es verhindert Veränderungsprozesse und damit die konstruktive Disruption. Die Einführung eines Mehrheitsstimmrechts würde die Institutionen der EU deutlich handlungsfähiger machen.

Zu einer strukturellen Disruption gehört aber auch die mutige Expansion. Europa darf sich nicht vom um sich greifenden Protektionismus, von Europaskepsis oder gar -feindlichkeit beirren lassen: Europa ist ein einzigartiges, wertvolles Friedensprojekt, das es nicht nur zu erhalten, sondern auszuweiten gilt. Wir brauchen eher mehr als weniger Europa. Aber vorher müssen wir unsere Hausaufgaben machen, den strategischen Rahmen schaffen und disruptive Reformen umsetzen. Dann wird auch die längst fällige geographische Erweiterung durch die Aufnahme beispielsweise der Westbalkanstaaten leichter und besser gelingen.

6. Die Vorreiterrolle Deutschlands

Die deutsche Deindustrialisierung ist mit der Disruption Europas noch nicht gebremst. Zwar wird die Bundesrepublik mittel- bis langfristig von einer starken Europäischen Union profitieren, doch bis dahin ist zu viel Zeit verstrichen. Auch die Bundesrepublik braucht tiefgreifende Veränderungen, und zwar jetzt. Die Reihenfolge ist daher andersherum. Deutschland – eine der tragenden Säulen der EU – muss sich neu erfinden und könnte so wieder zum Vorbild werden.

Die nach den Bundestagswahlen neu zu bildende Regierung bedeutet für Deutschland eine Chance auf konstruktive Disruption. Die galoppierende Deindustrialisierung erhöht den Druck auf tradierte Strukturen. Indem wir sie aufbrechen, können wir es schaffen, die großen Standortnachteile Deutschlands zu mitigieren, insbesondere die hohen Energiekosten, die Bürokratie, den Fachkräftemangel und die hohen Abgaben. Davon profitieren schließlich auch unsere europäischen Nachbarn, die sich nicht beim „kranken Mann“ anstecken.

Doch auch mit Blick auf unsere deutsche Außenwirtschaftspolitik gibt es Bedarf an schöpferischer Zerstörung. Deutschland tut gut daran, nicht länger werteorientiert, gar feministisch zu handeln, sondern interessengeleitet. Maßgeblich muss sein, wie unser Gegenüber tickt. Im Umgang mit den USA und China müssen wir folglich einen anderen Ansatz wählen als im Umgang mit den Ländern Asiens, Afrikas und aus dem arabischen Raum, die nach wie vor an die regelbasierte Globalisierung glauben.

Ein Beispiel: Obwohl der russische Angriffskrieg auf die Ukraine das Image der Rüstungsindustrie gedreht hat, denken wir ökonomische und verteidigungspolitische Interessen noch immer nicht zusammen. Dabei liegt darin der Schlüssel, um die deutschen Handelsbeziehungen zu den USA zu gestalten. Signalisieren wir Herrn Trump, dass wir auf den viel kritisierten Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands mit dem entsprechenden Ausbau unserer Investitionen in Sicherheit und Verteidigung reagieren.

7. Die Disruption – unsere letzte Chance?

Was bleibt unterm Strich? Disruption bedeutet eine radikale Veränderung, die wie eine Schockwelle durch Politik, Wirtschaft und Gesellschaft geht. Genau darin liegt ihre Chance: im Momentum der schöpferischen Zerstörung. Europa muss es nutzen, um geopolitische und geoökonomische Bedeutung wiederzuerlangen. Es ist an Deutschland, die Disruption loszutreten, um die galoppierende Deindustrialisierung zu verlangsamen, aufzuhalten oder gar umzukehren.

Die bewusste und konstruktive Disruption bedeutet eine Chance für Europa und Deutschland. Es könnte die letzte sein, bevor uns der Rest der Welt das Heft des Handelns komplett aus der Hand nimmt.